29. April - 19. Mai 2012
Liebe Familie, liebe Freunde
Für Ralph und mich ging ein langgehegter Wunsch in Erfüllung. „Einfach einmal per Fahrrad über längere Zeit unterwegs sein“. Wir sind von zuhause (konkret von Höri) nach Amsterdam geradelt. 1204 km, im Durchschnitt ca. 80 km pro Velotag. Eine wunderbare Erfahrung, denn beim Velofahren kann mach sich viele Gedanken machen: über das Leben, die Zukunft und die Wünsche.
Dies ist Freiheit. Die Freude und Unbeschwertheit, mit der wir durch die Landschaft fahren, ruft ein Gefühl der Leichtigkeit und des Geborgenseins hervor. Wir sind uns unseres Privilegs bewusst. Das Gefühl ist gekoppelt mit den Wünschen und der Hoffnung auf eine spannende Zukunft mit neuen Aufgaben und interessanten Engagements. Das Jahr 2012 wird vorübergehen und wir werden uns im Alltag wiederfinden.
Die ersten sechs Tage haben uns Uschi und Hans auf der Tour begleitet. Wir hatten viel Spass, nicht nur beim Velofahren, auch beim abendlichen Jass. Die Tour mit den beiden führte uns dem Rhein entlang über Karsau, Basel, Neuenburg am Rhein, Rhinau, Iffezheim und Germersheim nach Speyer. Am mittelalterlichen Fest in Bad Säckingen traffen wir doch tatsächlich einen „alten“ Freund vom Tischtennis mit seiner Partnerin: Ruedi und Eliane – verkleidet als Knappe und Magd. Das war ein Hallihallo und eine grosse Freude.
Wir fuhren auf der deutschen Seite Richtung Basel und bereits am ersten Tag begegneten wir brütenden Schwänen, nicht einfach aus einiger Entfernung, nein, direkt am Wegrand in einer Landschaft gesäumt von Seen und Wäldern. Der Oberrhein zwischen Basel und Mainz ist eine wunderschöne Natur- und Kulturlandschaft. Im Osten rahmen das Rheintal der Schwarzwald, Kraichgau und Odenwald und im Westen die Vogesen, der Pfälzer Wald und das rheinhessische Hügelland ein. Wir fahren durch unberührte Auenwälder mit reichhaltiger Fauna und Flora, durch Dörfer, Städte und Weinanbaugebiete. Eine ideale Strecke für Radfahrer: flach, meist auf dem Damm, gute Radwege und… wir hatten Rückenwind (ahhh, so schön!).

Im 2000-jährigen Speyer mit seinem romanischen Dom haben wir uns von Uschi und Hans verabschiedet, jedoch nicht ohne den romanischen Dom und den Biergarten mit dem eigenen Bier besucht zu haben. Ralph und ich sind am Nachmittag noch weiter bis nach Worms gefahren, eine weitere mittelalterliche Stadt mit beeindruckendem Dom. Worms ist eine geschichtsträchtige und sagenumworbene Stadt: Es ist der Herkunftsort von Luther sowie die Stadt der Nibelungen. Siegfried ist schuld daran, dass Worms Nibelungenstadt genannt wird: Dieser hörte, obwohl er sicher nicht über die heutigen Möglichkeiten verfügte, von der schönen Kriemhild, die in Worms am Hofe König Gunthers lebte. Nachdem Siegfried aus Xanten einen Drachen getötet und den Schatz der Nibelungen erobert hat, kommt er an den Königshof von Worms (Wortwahl Hotel Kriemhilde wo wir übernachtet haben). Wir haben das Museum der Nibelungensage besucht und sind beeindruckt von den Dimensionen, die die Sage über die Jahrtausende angenommen hat. Sie hatte immer wieder Einfluss auf Gesellschaft und Politik (oder war es umgekehrt?).
Die Weiterfahrt ging durch eine wunderbare Landschaft im Rebbau Gebiet. Nierstein ist als Weinstadt sehr bekannt, natürlich glaubten wir der Werbung nicht und mussten den Tropfen selber probieren. Trotz Regen genossen wir diese Fahrt nach Mainz, wo wir uns einen Tag Pause gönnten.
In Mainz steht der dritte mittelalterliche Dom – auch diesen haben wir uns angesehen. Die Mosaike, Skulpturen, Rosetten und Fenster sind immer wieder beeindruckend. In Mainz fliessen Rhein und Main zusammen und der Mainzer Johannes Gutenberg erfand um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern.
Der Rhein-Radweg führt ab Mainz zunächst durch das fruchtbare Land des Rheingaus. Auf die sonnenverwöhnten Südhänge des Taunus mit seinen Weinorten (Wetterlage während unserer Durchfahrt: Sonne, Wolken und Regen gemischt) folgt das enge und burgenreiche Tal zwischen Hunsrück und Taunus (die sagenumworbene Loreley). Anschliessend ging es durch die Städte Bonn, Köln und Duisburg. Dieser Teil ist geprägt von Schifffahrt und Industrie. Noch heute werden Güter auf dem Rhein transportiert. Man könnte diese typischen langen Schiffe, vollbeladen mit Ware wie zum Beispiel Kies oder Steine, stundenlang beobachten wie sie die den kurvenreichen Rhein meistern. Es war ein reger Schiffsverkehr.
Das sagenumworbene, üppig-wilde und romantische Loreley-Tal mit seinen grünen Hügeln und den vielen Burgen hat es uns angetan. Wir stiegen kurz vor St. Goar im Hotel Loreleyblick ab und buchten das Zimmer mit Blick auf die Loreley. Dort träumten wir von den Geschichten der Seefahrer, die wegen des Gesangs einer wunderschönen Frau in Seenot geraten seien. Tatsächlich ist die Loreley ein fast senkrechter Schieferfelsen, der den Rhein an dieser Stelle auf 113 m Breite einschränkt, mit einer möglichen Wassertiefe von 25 Metern. Diese Gegebenheiten haben die Schifffahrer früher tatsächlich immer wieder in Seenot gebracht.
Nun führte und die Route weiter über Koblenz und Bonn nach Köln. Die Etappe von St. Goar bis Bad Godesberg (vor Bonn) war unsere längste Tagesetappe: 107 km (nicht übel, gälled?). Sie führte uns u.a. entlang des unter Naturschutz stehenden Siebengebirges mit seinen ausgedehnten und nahezu geschlossenen Laubmischwäldern. Der Kölner Dom wurde übrigens weitgehend mit Gestein der schroffen Hänge des Drachenfelsens errichtet. Und präzise auf diesem Drachenfelsen hatte übrigens Siegfried den Drachen erlegt. Unglücklicherweise erwies sich an diesem Tag die Hotelsuche als schwierig, denn in Bonn lief ein grosser Kongress und alles war ausgebucht. Insgesamt hatten wir viermal Probleme bei der Hotelsuche: Iffezheim, Bad Godesberg, Düsseldorf und in der Nähe von Utrecht. Aber wie auch schon bei früheren Touren erlebt: Es gab auch hier immer eine Lösung.
Wir freuten uns riesig auf Köln. Wir erreichten diese Stadt um die Mittagszeit und fanden auch gleich eine Unterkunft in der Altstadt am Rhein: das Stapelhäuschen – ein kleines Hotel mit Restaurant, schmal und eng gebaut. Die Velos durften wir im Frühstücksraum abstellen (!). Am Nachmittag besuchten wir die Stadt. Wegen des Regens hüpften wir in einen Touri-Sightseeing-Bus und liessen uns alles erklären. Natürlich war der Besuch des imposanten Doms Pflichtprogramm. Zudem sind die Shopping-Strassen zu empfehlen. Am Nachmittag sind wir an zahlreichen Restaurants vorbeigelaufen, aber keines war so heimelig wie das unsere. So entschlossen wir uns in unserem Hotel zu essen. Typische hausgemachte kölsche Spezialitäten: Himmel un Äd (gebratene Blutwurst mit Kartoffel-Apfel-Püree und Röstzwiebeln) und Wiener Schnitzel vom Kalbsrücken (würden wir zwar als halbtypisch bezeichnen) mit lauwarmem Kartoffel-Gurken-Salat.
Die Etappe von Köln nach Meerbusch (bei Düsseldorf) war geprägt von zwei Platten an den Anhängerreifen, dreimal verfahren und einer mühsamen Hotelsuche. Ja, ihr lest richtig: Wir hatten auch schwierigere Tage. Der industrialisierte Teil des Rheins hat aber auch seinen Reiz. Die Gegend war geprägt von grossen Industriegebieten, rauchenden Kaminen, eckigen und eingezäunten Gebäuden, grossen Hafenanlagen und tausenden von Containern beschriftet mit Speditionsfirmen aus aller Welt. Wirklich spannend, doch teilweise unübersichtlich und ein Spiessrutenlauf durch die Strassen vorbei an Baustellen. Hier können wir noch eine unglaubliche Geschichte zum Besten geben: Bei Neuss haben die Bauarbeiter während der Arbeiten an der Strasse eine Beschriftungstafel des Rhein-Fahrradweges um einen Viertel gedreht. So kam es, dass wir zuerst in die falsche Richtung radelten. Wir wunderten uns schon darüber, dass wir plötzlich flussaufwärts fahren sollten.

Nach Duisburg (Ruhrpott) wurde die Gegend des Niederrheins zum Radfahren wird entspannter: Grüne Ebenen und bewaldete Hügel der früheren Endmoränenwälle. Die Strecke war gut markiert, doch nun begegnete uns eine weitere Herausforderung: der Gegenwind. Das Wetter war wolkig und es regnete teilweise. Diese Etappe führte uns nach Xanten. Hier wollten wir unbedingt übernachten, denn aus Xanten stammt Siegfried, der aus der Nibelungen-Sage. Ein junger Recke, dessen Kraft und Kühnheit schon in jungen Jahren gerühmt wurde. In Xanten waren wir zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort: Das Wein- und Musikfest fand an diesem Wochenende statt. Am nächsten Tag gab es noch viel Gegenwind. Ralph bemerkte: „Wir sind noch nie so langsam gefahren!“ In zweierlei Hinsicht war dieser Tag jedoch ein denkwürdiger Tag: wir passierten die 1000-km-Grenze seit zuhause sowie die Grenze zu Holland. Die Landschaft war weiterhin wunderschön: fruchtbares Flussgebiet, zierliche Alleen und anmutige Backsteinstädtchen.
Weiter ging’s nach Arnhem. Danach verliessen wir die Rhein-Route und zweigten in Wiik bij Duurstede ab um entlang dem Amsterdam-Rijn-Kanal nach Amsterdam zu gelangen. Holland hat übrigens ein geniales Radweg-System. Man kann sich jeweils an Knotenpunkten orientieren und seinen Weg selber bestimmen. Es folgte nun eine wunderschöne Fahrt die uns weitgehend dem Kanal entlang führte. Die Wege waren gesäumt mit Baum-Alleen mit Blick auf den fast bolzengeraden Kanal.
Zur Organisation unserer letzten Übernachtung vor Amsterdam dachten wir: „Nun sind wir clever!“. Wir fahren nicht in die Stadt Utrecht, sondern übernachten in einem Vorort. Wir steuerten Richtung Nieuwegein und wir trafen auf ein typisches holländisches Städtchen mit seinen Backsteinhäuschen, Schleusen, einem Park und einer ehrwürdigen Kirche. Aber weit gefehlt: Nieuwegein ist ein Vorort von Utrecht, hat zwar einen schönen Kern, aber nur ein einziges Hotel. Nieuwegein dehnt sich aus und wird zur Businessstadt mit einem einzigen Hotel, dem Hotel Mercure. So kam es, dass wir ziemlich verlassen (nur 3-4 Gäste) in diesem gediegenen Hotelbunker residierten.

Unser Ziel, Amsterdam, erreichten wir am nächsten Tag. Wir genossen diese letzte Fahrt bis wir den Punkt Südost-Amsterdam erreichten. Die Fahrt ins Zentrum gestaltete sich schwierig. Mit Nachfragen und Google Maps (sei Dank!) erreichten wir Amsterdam Centrum trotzdem nach einiger Zeit. Wir reihten uns in die Flut der Radfahrer ein und erreichten nach 2 ¼ Stunden suchen unser Hotel Oranje Tulpe mitten im Centrum an der Damstraat, nicht weit vom Bahnhof entfernt. Ein extrem schmales Haus. Die Fahrräder konnten wir nicht im Hotel lassen. Wir haben sie jedoch im Bahnhof, dem bewachten Veloparkplatz (geniale Sache!) bis zu unserer Rückfahrt nach Zürich einstellen können.
Amsterdam ist nicht Holland. Dies war unser erster Gedanke bei der Ankunft, nachdem wir vorher vorwiegend über Land gefahren sind. Eine Grossstadt, wir mussten uns zuerst orientieren und daran gewöhnen. Dies gelang uns jedoch sehr gut. Sightseeing zu Fuss, im Tram, Touri-Bus und per Schiff haben uns die Stadt näher gebracht. Wir haben sogar zwei Grachtenfahren unternommen, denn der Blick von der Gracht auf die Grachtenhäuser und die hunderten von Brücken waren einmalig, einfach faszinierend. Und natürlich konnten wir endlich das Vincent van Gogh Museum besuchen. Dieser Maler, seine intensiven, aussagekräftigen Bilder und sein Leben beeindruckten uns schon lange. 205 Gemälde, 524 Zeichnungen und Aquarelle sowie hunderte von Briefen lassen den Besucher in seine Welt eintauchen. Wir haben auch das Anne Frank Haus besucht. Dieses besondere Museum war das Versteck in dem Anne Frank während des zweiten Weltkrieges ihr Tagebuch geschrieben hat. Die Familie Frank versteckte sich in diesem Haus an der Prinsengracht 263. Insgesamt vesteckten sich acht Personen in diesem Haus. Annes Vater, Otto Frank, war der einzige, der den Krieg überlebte. Er veröffentlichte Annes Tagebuch. 1960 wurde das ehemalige Versteck ein Museum. Der Besuch dieses Museums war absolut eindrücklich und unvergesslich.
In Amsterdam erlebten wir auch noch den unglaublichsten Zufall: Am zweiten Tag entschlossen wir uns zu einer Touri-Sightseeing-Bus-Tour. An der zweiten Haltestelle stiegen wir aus um einen Kaffee zu trinken und zu frühstücken. Die Haltestelle hiess: Grand Hotel Amrath. Gestärkt warteten wir anschliessend an der Haltestelle auf den nächsten Bus als ein Auto vorfuhr. Ralph rief mir zu: „Hey, der hier drin sieht aus wie Gonzalo!“ (Schwager). Ich warf einen kurzen Blick ins Auto und dachte mir: „Ja klar, viele Männer haben graue Haare.“ Die nächsten Minuten waren unbegreiflich und etwas chaotisch. Gonzalo stieg tatsächlich aus und nach ihm meine Schwester, Elsbeth, und ihre Freunde Ingrid und Alex, Ursi und Umberto. Meine Schwester hatte alles anders geplant. Sie plante tatsächlich, uns anlässlich ihrer Städtereise nach Amsterdam zu überraschen. Sie wollte uns donnerstagabends in ein Restaurant lotsen, so dass wir gemeinsam einen Abend verbringen konnten. Dies haben wir dann natürlich auch noch gemacht. Wir verbrachten einen vergnüglichen Abend beim Italiener, im Restaurant Savini in der Spuistraat. So kam es, dass nicht nur wir überrascht wurden, sondern auch Elsbeth und ihre Freunde.
Freitagnacht ging unsere Reise dann zu Ende. Wir fuhren mit dem City-Night-Line nach Zürich, wo uns Hans und Patrick abholten. Wir werden diese Reise – die wir uns so lange wünschten – nicht vergessen. Radelnd reisen, Land und Leute kennenlernen, sein, staunen und geniessen. Sowohl in Deutschland als auch in Holland trafen wir immer wieder auf aufgeschossene und sympathische Menschen.
Wir hoffen, dass wir euch mit diesen Zeilen ein wenig auf unsere Reise mitnehmen konnten.
Monika und Ralph